„Ob die Sage alt und ächt“

Historische Anmerkungen zum Walserbewusstsein

Festrede von Dr. Ulrich Nachbaur beim Festakt „700 Jahre Walser in Vorarlberg 1313 – 2013“ der Vorarlberger Walservereinigung am 9. Juni 2013 im Gemeindesaal Damüls

Dr. Ulrich Nachbaur beim Festvortrag 2013 in Damüls.
Foto: Jodok Müller

1843 veröffentlichte der Münchner Schriftsteller Ludwig Steub in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ einen Beitrag über „Die Walser im Vorarlberg“. Steub schildert seine sonntägliche Ankunft in Damüls, die jungen Frauen in kuriosem Festgewand und die Bauern, die mit ihren Köpfen alle Fenster des kleinen Wirtshauses einrahmten, als sie den unbekannten Pilger kommen sahen: „Sie staunten alle, aber sie sprachen nicht“.

Es war die Zeit, als das romantisch beseelte Bildungsbürgertum ausschwärmte, um unverfälschte „edle Wilde“ zu dokumentieren, ihre Sprache, ihre Bräuche, ihre Sagen. Und scheinbar unbedarfte Eingeborene hatten in den Fremden bereits ein folkloristisches Geschäftsmodell erkannt. Steub jedenfalls begegnete den Walsern mit Skepsis:

„Es ist auch eine in diesen Thälern verbreitete Meinung,“ schrieb er, „daß man allzusammt vor langen Zeiten aus der Schweiz gekommen sey, wobei es denn freilich auf eine nähere Untersuchung ankäme, ob diese Sage alt und ächt, oder wie manche andere, an welchen unbefangene Touristen einen Fund gemacht zu haben glauben, erst durch Geistliche und Schullehrer unter die Leute gebracht worden sey.“

„Ob diese Sage alt und ächt“ – das, meine Damen und Herren, ist die Frage, die sich 170 Jahre später vielfältig aufs Neue stellt, der sich Historiker immer wieder stellen müssen, und das kann auch schmerzhaft sein. Als Kinder verbrachten wir unsere Ferien bevorzugt in unserem alten Ammannhaus in Fontanella, wo mich die Bilder von den „freien Walsern“ fesselten und prägten, die uns Luise Jehly um 1970 im „Edelweiß“ in Fontanella und im „Kreuz“ in Buchboden an die Wand und bei uns im „Kreyerhüsli“ an die Stubendecke malte. Heute, nach zähen Forschungen zum Gericht Damüls, zur Walsersymbolik, zum heiligen Theodul, muss ich mir eingestehen, dass wohl viele der „Sagen“ nicht wirklich alt und etliche nicht wirklich echt sind.

Die einzigartigen, freiheitsgetriebenen, wehrhaften, gottesfürchtigen, raumgreifenden, blondblauäugigen Kolonisatoren, das Bild, das erst mit einer Landnahme durch die Walser Zivilisation in unseren Bergen Einzug hielt, selbstbestimmt und demokratisch – dieses Bild beruht weitgehend auf einem Mythos, der vom 19. zum 20. Jahrhundert geprägt wurde von ehrenhaften Historikern, Volkskundlern, Sprachwissenschaftlern und Anthropologen, Heimatforschern, Geistlichen und Lehrern, Reiseführern, Touristikern und Journalisten, Heraldikern, Künstlern und auch Literaten – denken wir nur an Adalbert Weltes eindrücklichen Roman „Die große Flucht“ (1939). Ein Mythos, der spätestens mit der Gründung einer „Vorarlberger Walservereinigung“ von Walserinnen und Walsern, die regional immer weiter ausuferten, allmählich verinnerlicht und zur Gewissheit verdichtet wurde, zu einer Wahrheit, ja zu der Wahrheit.

Bitte, erschlagen Sie mich erst später. Denn ich sage Ihnen das nicht aus Trotz oder Überheblichkeit, sondern aus Respekt und Zuneigung.

Wenn wir heute gemeinsam „700 Jahre Walser in Vorarlberg“ feiern, dann hat das mehr mit soziologischen als mit historischen Phänomenen zu tun, weniger mit zwei 1313 ausgestellten Urkunden, als mit Fragen der Identität, mit einem Selbstbewusstsein und Gemeinschaftsgefühl, das im 19. Jahrhundert mit der Erkenntnis unterfüttert oder der Meinung geweckt wurde, „daß man allzusammt vor langen Zeiten aus der Schweiz gekommen sey.“

In einem lesenswerten Aufsatz über Walserforschung und „Walserbewusstsein“ in Graubünden verwies Georg Jäger auf den berühmten Soziologen Max Weber. Tatsächlich liest sich das Kapitel „Entstehung ethnischen Gemeinsamkeitsglaubens“ in Webers Werk „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1922) wie auf das „Walsertum“ zugeschnitten. Der Kernsatz lautet gekürzt:

„Wir wollen solche Menschengruppen, welche auf Grund von Ähnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegen, […] ‚ethnische’ Gruppen nennen, ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinschaft objektiv vorliegt oder nicht.“

Die „Walser“, eine ethnische Gruppe, die den Glauben an eine Abstammungsgemeinschaft hegt. Aber seit wann? Ununterbrochen? Und wo überall?

Für Graubünden interessierte sich Georg Jäger, „wie lange und wo die Herkunft und die Sprache eine Rolle spielten für das eigene Zugehörigkeitsgefühl, das heisst für das Wissen oder Meinen um die Herkunft bei den Nachkommen der Einwanderer des 13./14. Jahrhunderts.“ 6 Fündig wurde er nur beim Engadiner Ulrich Campell, der in seiner ab 1570 verfassten Landeskunde die Rheinwalder und Davoser sprachlich als „Lepontier“ bezeichnete. Die Churer Rheintaler hießen die Davoser „Valliser“ oder „Valser“, die in der barbarischen „Walliser Sprach“ redeten. Die Davoser selbst glaubten, ihre Herkunft gehe auf die Viberer im Oberwallis zurück. Es folgt eine Sage über die Ansiedlung und die Erwähnung des Lehensbriefs von 1289.

Für die Zeit nach Campell fehlten, so Jäger, für Graubünden eindeutige Zeugnisse einer mündlichen Überlieferung. Die „Bibelfesten“ unter Ihnen werden jetzt innerlich aufbegehren und auf Paul Zinsli verweisen, der in seinem Standardwerk „Walser Volkstum“ (1968) als Beleg für eine „weiterdauernde konfessionelle Verbundenheit mit dem Rhonetal“ ins Treffen führte, dass die Gemeinde Obersaxen im Bündner Oberland sogar noch 1730 die Tage von St. Joder und St. Anton „ausdrücklich in Erinnerung an die Altvorderen aus dem Wallis“ zu Feiertagen erklärt habe.8 Allein diese „Sage“ ist nicht wirklich echt. Zinsli berief sich auf Historiker, die sich auf einen irreführenden Auszug aus dem Landbuch von Obersaxen verlassen hatten, anstatt das Original einzusehen. Und dann noch Karl Ilgs flüchtige Behauptung, in Vorarlberg sei bis ins 18. Jahrhundert die Wallfahrt zum heiligen Theodul nach Sitten lebendig geblieben: Wer mir dafür Belege bringt, dem schenke ich eine Fahrkarte ins Wallis.

Der Name „Walser“ sei nur noch in den Tälern an der Breitach und an der Lutz zu Hause, berichtete Steub 1843, zudem auf Damüls, „obgleich es auch noch in Erinnerung der Landleute geblieben, daß die Bauern welche im Thale von Laterns und auf dem Dünserberge bei Feldkirch wohnen, des gleichen Stammes sind.“9 Aus einem Friedensvertrag von 1408 waren zudem Walliser im Montafon und auf Galtür bekannt. Brand oder Ebnit sollten erst später für die Walser entdeckt werden. Über die Tannberger berichtete Bergmann, dass sie „sich selbst weder Walser nennen, noch von Andern so genannt werden“, sich aber dennoch bewusst seien, „daß sie keine Urbewohner, sondern Einwanderer sind.“ Dabei verdanken wir die älteste bekannte Nachricht über eine Herkunft aus dem Wallis gerade einem Tannberger Ammann, der 1492 zu Protokoll gab, „das die armen lewt zu Mittelberg mitsambt denen von Tennenberg von Wallas khomen und frey lewt seyen.

Auf eine erstaunliche „Walser aus Wallis“-Überlieferung bin ich im Raum Rankweil-Laterns gestoßen: Der Rankweiler Johannes Häusle berichtet in seiner Chronik von 1758, Laterns, Damüls und „Valentschinen“ seien mit Erlaubnis der Grafen von Montfort mit Leuten besetzt worden, „so von Wahlis gebürtig“, und würden deshalb „Walser“ genannt. Dieses Spezialwissen mag daher rühren, dass die benachbarten Laternser mit ihrem Pfarrer jahrelang über eine Messverpflichtung aus Zeiten der Pfarrgründung stritten. Eine 1682 angelegte Pfarrchronik gab Auskunft darüber, dass die ersten Einwohner von Laterns „Wallißer, oder aus Wallißlandt gebürthig“ waren, weshalb die hiesigen Leute und aus demselben Grund die auf und um Raggalgemayniklich die Walser genannt werden.“13 1764 schrieb der Pfarrer an seinen Bischof, dass die ersten Einwohner, „welche aus dem Walliser Landt dahin kommen,“ um 1313 eine Kapelle erbaut hätten. Die Gemeinde verwies 1775 darauf, dass das umstrittene Pfründbüchlein keine Besonderheit der Pfarre Laterns sei, „sondern gemein mit den übrigen Walserpfarreyen Sontag und Raggal, welche mit Laterns einerley Ursprung und heilige Patronen haben.

Postkarte vom Luftkurort Laterns gegen den Walserkamm um 1911.
Quelle: Vorarlberger Landesarchiv, Bregenz

Das Walserbewusstsein der Laternser beschränkte sich also auf Laterns, Sonntag und Raggal. Nicht einmal das benachbarte Gericht Damüls mit den Pfarren Damüls und Fontanella zählten sie dazu, nicht die Nachbarn in der Herrschaft St. Gerold. Bezeichnend ist, dass das „WALLSERTHAL“, das in der ersten Landeskarte von 1783 ausgewiesen wurde, nach dem geographischen Verständnis bis ins 19. Jahrhundert hinein auf die Blumenegger Pfarren Sonntag, Buchboden und Raggal beschränkt blieb.

„Täler“ spielten begrifflich allgemein noch kaum eine Rolle, Walser finden wir am Mittelberg, am Tannberg, im Silberberg. Auf begangenen Passlandschaften, nicht in Gebirgseinöden. Vor 700 Jahren wurden Walser in Laterns und Damüls nicht mit alpinen Urwäldern um Furka und Faschina belehnt, sondern mit Gütern und Alpen, die bereits erschlossen waren. Noch ließ das Klima selbst Getreidebau auf 1.600 Meter Seehöhe zu. Vom Tannberg wissen wir dank paläobotanischer Untersuchungen, dass dort schon seit über 2.000 Jahren Ackerbau betrieben wurde, bevor sich Walser blicken ließen.

Doch stammten die Walser nicht selbst von einer ursprünglich rätoromanischen Bevölkerung ab? – Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierte die vom St. Galler Geschichtsschreiber Ildefons von Arx vertretene Meinung, der Begriff „Walser“ verweise wie „Walgau“ oder „Walensee“ auf Walsche, die Walser seien also eine Art Restromanen. Steub konnte das mit Hinweis auf Bergmann entkräften.

Der Hittisauer Josef Bergmann war Kustos am k. k. Münz- und Antikenkabinett in Wien und kann als Begründer einer wissenschaftlichen Landes- wie auch der Walsergeschichtsschreibung gelten. 1844 sollte Bergmann mit „Untersuchungen über die freyen Walliser oder Walser in Graubünden und Vorarlberg“ die erste Studie überhaupt vorlegen, die speziell der „Walserfrage“ gewidmet war. Die Angabe älterer Geschichtsschreiber über eine Einwanderung aus dem Wallis war Bergmann „lange sehr befremdend“ gewesen.17 Doch 1837 hatte er ein Erweckungserlebnis beim Kapellfest in St. Gerold, als er das Gespräch bei der vorwiegend geistlichen Tafelrunde auf die Walser lenkte, auch welche Heilige sie denn so verehrten. Als er die Auskunft erhielt, früher sei besonders der heilige Theodul verehrt worden, da fiel beim Numismatiker Bergmann der Groschen. Den Bischof mit dem glockenschleppenden Teufel kannte er von alten Walliser Münzen. So wurde der heilige Theodul für Bergmann zum Kronzeugen für die Herkunft aus dem Wallis und in Bergmanns Fußstapfen verdichtete sich die Überzeugung zur Plattitüde, dass die Walser aus der Walliser Heimat „ihren“ heiligen Theodul mitgenommen hätten und der Bischof hierzulande nur von den Walsern und von allen Walsern verehrt worden sei.

Ich kann Ihnen so viel verraten, dass der heilige Theodul nicht mit den Walsern mitgewandert, sondern ihnen allenfalls im 15. Jahrhundert nachgewandert ist, als der exorzistische Wetterpatron weithin in Mode kam, die bei den Walsern allerdings auf die alten Pfarreien beschränkt blieb, dass St. Joder bei der Verdichtung des Seelsorgenetzes im 17. Jahrhundert in die neuen „Walserkirchen“ nicht übernommen wurde, dass er – abgesehen von Raggal – allgemein außer Mode geriet, bis ihn Bergmann als Leitfossil der Walserforschung entdeckte. Auf einen „Walser“-Heiligen verengt wurde Theodul schließlich zu einem Walser Markenzeichen. Verblüffend ist das nicht unsympathische Beispiel Triesenberg, wo der Heilige im 15. Jahrhundert zeitweilig als Mitpatron der Kapelle auf Masescha gegolten hatte, aber schon lange so gut wie vergessen war, als 1900 ein altes Altarbild wieder zum Vorschein kam und damit beweiskräftig eine Walserrenaissance auslöste und beflügelte, die dazu führte, dass wir heute am Triesenberg auf Schritt und Tritt dem heiligen Theodul begegnen.

In Vorarlberg habe ich nur einen schriftlichen Beleg der Glockenlegende gefunden, und zwar in Häusles Rankweiler Chronik von 1758, wo Theodul aber nichts mit dem Wallis zu tun hat, sondern Bischof von Mailand war. Von der Dichterin Natalie Beer etwas verstümmelt, finden wir heute ausgerechnet diese Version auf der Internetplattform „Walser Alps“ wieder.

Um 1890 setzten säkulare Wallis-Wallfahrten ein, woran die Thebäerreliquien der Pfarrkirche Mittelberg erinnern und augenfällig das in Stein gemeißelte „Gott zum Gruß aus der alten Heimat“ an der Fassade der Pfarrkirche Laterns. 1938 sollte die Gemeinde Laterns auch noch die Walliser Sterne in die Vorarlberger Heraldik und in die Walser Gefühlswelt importieren. Die Wiederentdeckung einer fern glänzenden „Urheimat“ und der Glaube an eine Abstammungsgemeinschaft taten Wirkung.

Wenn um 1890 auch in Graubünden die „Walserfrage“ zum Thema wurde, war das eine Folge des wachsenden Selbstbewusstseins der romanischen Bevölkerung. Leidenschaftlich wurde darum gefochten, wessen Werk „alt fry Raetien“ gewesen sei. Für Vorarlberg stellte sich diese Frage nicht mehr. Überall hätten sich die Walser „wie Keile“ eingeschoben oder sich „wie ‚deutsches Pulver‘ mitten im romanischen Gebiete unter den ‚Pompalusern‘ fest[gelegt], um sie zu sprengen,“ hob der Damülser Pfarrer Alois Berchtold als Kulturleistung hervor, als er 1913 in einer Serie „Zum 600jährigen Walserjubiläum“ im „Vorarlberger Volksblatt“ einen Überblick über den Forschungsstand gab. Die „Walserfrage“ war für den gebürtigen Kleinwalsertaler noch nicht eindeutig gelöst. Man habe „auch heute noch das Recht, einer Abstammung aus dem Kanton Wallis skeptisch gegenüberzustehen. Der Mann, der eine solche bewiesen hat, ist noch nicht aufgestanden.“

Mosaik mit glockentragendem Teufel aus der Theodul-Legende von Prof. Josef Seger, Mödling b. Wien, über dem früheren Nordeingang des Triesenberger Rathauses.
Foto: Josef Eberle

Als sich die Triesenberger 1900 nach Wallis um Auskunft über ihre Herkunft wandten, musste Pfarrer Ferdinand Schmid als wohl bester Kenner der Oberwalliser Archive eingestehen: „Ich habe hunderte von Akten aus dem 13. Jahrhundert durchgesehen. Nirgends ist eine Andeutung über diese Auswanderungen. Ebenso fand ich nichts aus den Akten des 14. und 15. Jahrhunderts.“

Seit über 170 Jahren wird darüber spekuliert, warum Walliser im Spätmittelalter andernorts ihr Glück suchten. Aber in den Walliser Archiven fanden sich keine Hinweise auf Auswanderungen. So müssen wir uns mit Einwanderungsbelegen begnügen.

Wenn in Laterns das Herkunftswissen gespeichert blieb, wird das nicht zuletzt dem Umstand zuzuschreiben sein, dass die Laternser „Walser“-Urkunden bei Bedarf aus dem Archiv gezogen werden konnten. Die Damülser Urkunden gingen verloren und sind nur als Abschriften in einem 1618 angelegten Urbar, einem Güter- und Einkünfteverzeichnis, der Herrschaft Feldkirch überliefert. Deren Inhaber, die Grafen Rudolf und Berthold von Montfort, stellten am 29. Mai 1313 zwei Personengruppen Lehensbriefe aus:

Johann und Wilhelm Schmied, die Brüder Jakob, Wilhelm und Johann, Walchs Söhne, sowie Matthäus von Flurel erhielten das „Gut“ Laterns und die Alpe Gapfohl. Von „Wallisern“ ist in dieser Urkunde nicht die Rede.

Dafür im Brief, mit dem am selben Tag die Belehnung der „Walliser“ Thomas und Jakob von Bondt, Walters Söhne zu der Tannen, des Heinrich Vogel von Bondt, des Jakob von Nisesinen (oder Nisefingen) sowie seines Sohns Walter mit der Alpe Uga erfolgte. – Das ist das älteste erhaltene schriftliche Zeugnis über „Walliser“ im heutigen Vorarlberg. – 1326 folgte die Alpe Damüls.

Vorbild für die Montforter waren offenkundig Grundherren im heutigen Graubünden. Die Grafen blieben Grundherren, „Eigentümer“, der Güter und Alpen, die sie an Personengruppen verliehen, die jährlich auf Martini gemeinschaftlich einen Geldzins schuldeten, ihre beschränkten Rechte auch vererben und veräußern konnten. Zudem wurden die Inhaber der Güter verpflichtet, der Herrschaft gegen Ersatz der Kosten innerhalb des „Landes“ mit Schild und Speer Kriegsdienst zu leisten.

Auch andere Grund- und Landesherren räumten Wallisern Erblehen an Gütern ein, zum Beispiel ein Werdenberger 1399 in Buchboden oder ein Emser 1421 im Bereich Ebnit. Aber es gab auch andere Modelle: So war es die Gemeinde Bürs, die 1347 Wallisern mit obrigkeitlicher Genehmigung das heutige Brandnertal verlieh. 1362 überließen die Kirchenpfleger von St. Nikolaus im Silberberg (Silbertal) einem Walser ein Gut als Erblehen, das zur Ausstattung der Kirche gehörte. In Meschach und Altach war es um 1397 ein Feldkircher Bürger, der als „Investor“ Güter erwarb und an Walliser verpachtete. Andere Walliser kauften einfach Bauerngüter oder werden in den Städten oder sonst ein Fortkommen gesucht haben.
 

Die Vorstellung, dass alle Walser hochalpine Wehrkolonisten waren, führt in die Irre. Die Verpflichtung, mit Schild und Speer bereit zu stehen, ist nur für die ersten Lehensnehmer der Montforter in Laterns und Damüls ausdrücklich dokumentiert. Später traf alle Landstände eine Landesmilizpflicht. Als dann Vorarlberg unter Maria Theresia gezwungen wurde, einige Leute für das stehende Heer zu stellen, konnte sich einzig das Gericht Damüls entziehen, dem das Vogteiamt Feldkirch bescheinigt hatte, dass „wegen der bergigen Lage und mehr als anderswo beschwerlichen Feldarbeit entweder die Leute durchaus zu klein oder kurzhalsig oder beschädigt an den Beinen seien.“ Mit den gestählten Walserhünen war es demnach nicht so weit her.

Gründungsdokument des Blumenegger Walsergerichts von 1397. Abschrift um 1628.
Quelle: Vorarlberger Landesarchiv: Reichsherrschaft Blumenegg Hs 160, S. 17

Nach den Stellungskommissionen begannen sich auch die Anthropologen der Universität Zürich für die körperliche Verfassung der einschichtigen Walserpopulationen zu interessieren, ihre Schädel zu vermessen. 1912 legte der Bregenzer Mediziner Romedius Wacker eine grundlegende Dissertation „Zur Anthropologie der Walser des grossen Walsertales in Vorarlberg“ vor. Seine These freilich, dass auch die Kropfbildung samt Kretinismus ein Walliser Erbgut sei, erwies sich als nicht tragfähig. Nichts konnte Wacker wieder der These eines Viehzuchtexperten abgewinnen, die Walliser stammten samt ihrem Vieh aus dem Sudan; der kleine barbusige schwarze Teufel sei ein Indiz dafür, dass der heilige Theodul in Wallis halbwilde „Fetischanbeter“ bekehrt habe. Bis heute wird darüber sinniert, ob die Oberwalliser und ihre Walserabkömmlinge Alemannen seien oder deutschgebliebene Burgunder mit sarazenischen Einschlägen.

Nach Entdeckung der Blutgruppen wurde den Walsern dann auch noch Blut abgezapft. Die letzten sero-anthropologischen Untersuchungen führten 1959 Forscher der Universität München bei „Voll-Walsern“ und „Halb-Walsern“ im Kleinwalsertal durch.

„[…], solange Walserblut lebt, das sich stolz seiner Herkunft und Vergangenheit bewusst ist,“ pflegte der verdiente Sippen- und Heimatforscher Alfons Köberle an seine Stammesbrüder zu appellieren. – Rassenbiologische Begrifflichkeiten und Denkmuster wirken in der Walserliteratur bis heute nach. Sie wirken nicht nur ausgrenzend, sondern verstellen auch den Blick auf das Wesentliche des historischen Phänomens „Walser“. Denn es ging nicht um „Walserblut“, sondern um „Walserrecht“, nicht um „Blutsgemeinschaften“, sondern um Rechtsgemeinschaften. Ob jemand tatsächlich irgendwie aus dem Wallis stammte, war nicht entscheidend. Entscheidend war, ob jemand einer Genossenschaft oder Gemeinde im alten Sinn eines Personenverbandes angehörte, die als eine Rechtsgemeinschaft von „Walsern“ galt.

Das konnte einfach nur eine Steuergenossenschaft sein, wie im Brandnertal, oder eine umfassendere Rechts- und Verwaltungsgenossenschaft, wie die alten Gerichtsgemeinden, die freilich Wandlungen unterworfen waren. Fassbar sind fünf solcher „Walser“ Gerichte, zunächst die Gerichte Damüls, Tannberg und Mittelberg, die zu den österreichischen Landständen vor dem Arlberg zählten, normale Landtage aber häufig „schwänzten“. Ein Gründungsdokument besitzen wir für das 1397 errichtete Gericht der Walser der Herrschaft Blumenegg, die erst 1804 an Österreich gelangte (ebenso die Herrschaft St. Gerold). Die vom Grafen zugestandene Gerichtsordnung zeigt, dass der Ammann und seine Geschworenen gräfliche Gehilfen waren. Ähnliches dürfen wir auch für das um diese Zeit vom dortigen Landesherrn gewährte Gericht der Walser im Montafon annehmen. Jedes genossenschaftliche Gericht war vom Landesherrn delegiert, unterstand seiner Kontrolle.

Was unter einem „freien“ Walser jeweils zu verstehen ist, bin ich mir nicht so sicher. Im Kern geht es um eine Rechtsstellung. Nicht der „freie Walser“, schon der Begriff „Walser“ selbst war eine Rechtskategorie: Wer in eine Rechtsgenossenschaft der Walser aufgenommen wurde, wurde damit zum gehörigen „Walser“, von wo immer er stammen mochte. Umgekehrt konnten ganze Personenverbände ihre „Walser“-Qualität verlieren.

1453 ersuchten die Walser im Montafon um Aufnahme in den Kreis der Hofjünger und verzichteten freiwillig auf „aller ihr fryheit und herkhommen als Walser“. Damit gab es im Montafon rechtlich keine Walser mehr. Alle, „die Walser gewesen sind“, wurden mit Genehmigung des Landesherrn zu leibeigenen Hofjüngern.31 Bei den Walsern der Herrschaft Blumenegg genügte es schon, dass sich die Gerichtsgemeinde 1523 freiwillig in die Leibeigenschaft ihres Landesherrn begab, um als „ehemalige Walser“ zu gelten.

Allgemein galt die Regel: Heiratet ein Nicht-Leibeigener eine Leibeigene oder umgekehrt, folgen deren Kinder der „bösen Hand“, fallen also dem Personenverband des Leibherrn zu. Heiratete ein Damülser Walser eine Frau, die zu den Gotteshausleuten der Propstei St. Gerold gehörte, wurden die Kinder nicht „Walser“, sondern mit der Geburt zu Gotteshausleuten, auch wenn die Mutter direkt aus dem Wallis gekommen wäre. – Als was sich die betroffenen Menschen jeweils selbst sahen, ist eine andere Frage.

Sie sehen es, es mag nicht recht gelingen, die „Walser“ unter einen Hut zu bringen.

Für Paul Zinsli war Walsertum „Sprachvolkstum“. Doch wer weiß schon zuverlässig, wie Walliser oder Walser früher redeten?

Als Steub 1843 nach Damüls kam, wurde ihm erklärt, dass vor gut fünfzig Jahren noch eine andere Sprache üblich gewesen sei, doch gelang es nicht, den scheuen Alten etwas von diesem „Altdamilserisch“ zu entlocken. Als Pfarrer Josef Fink gut vierzig Jahre später in Wallis nach den Wurzeln suchte, ließ er einen alten Mittelberger „vorwalsern“, bis sie Zermatt als Stammort der Kleinwalsertaler bestätigt fanden.
 

„Wo nicht mehr eine walserdeutsche Mundart geredet wird,“ stellte Zinsli 1968 fest, „besteht kein Walserort mehr, ja gibt es im Grunde keine Walser mehr. Man denke an das Brandner- oder Silbertal in Vorarlberg, wo der Walgauer Dialekt zur Herrschaft gelangt ist.“ Doch auch im Großen Walsertal hatte Zinsli schon 1953 bei Feldforschungen einen Sprachverfall feststellen müssen: „Jüngere scheinen oft nur eine Mischsprache zu beherrschen, die sie freilich selbst noch als ihre Mundart betrachten,“ stolz darauf, „Walserdeutsch zu reden“. Das Vorarlberger Walsertum stehe „in der Gefahr der Auflösung“.

In dieser Umbruchsphase organisierten sich die Walser in Graubünden, in Vorarlberg und international. Die „Vorarlberger Walservereinigung“ wurde 1967 als Vereinigung von Gemeinden gegründet, die sich mit ihrem Beitritt als „Walsergemeinden“ deklarierten. Heute sind es neunzehn, einschließlich der Ortschaft Ebnit und der auswärtigen Gemeinden Galtür und Triesenberg. Die Brander haben heute ein „Walser Alphabet“, die Laternser „Önschas Gmendsblättli“, die Bürserberger einen konstruierten „Walser Steinbock“ im Wappen, und alle sind stolz darauf.

Heute gibt es damit mehr Walserinnen und Walser als je zuvor. Viel mehr als Zinsli oder Anthropologen als kulturelle oder biologische „Vollwalser“ anerkannt hätten, und das ist recht so und entspricht auch mehr den historischen Walsergemeinden, die nicht auf Menschen mit Walserblut und Walserzunge beschränkt waren.

Vielleicht können wir uns auf die Formel einigen: Walser ist, wer sich als Walser sieht und als Walser angesehen wird.

Liebe Jubelwalserinnen und Jubelwalser, bewahren Sie sich Ihre Walserheimat und durchaus auch Ihre Walsermythen. Jede Gemeinschaft braucht Mythen. Es ist aber weder notwendig noch zielführend, aus dem „Walsertum“ frömmlerisch eine Glaubensfrage zu machen. Es genügt vollauf, von Herzen Walserin und Walser zu sein. Ich habe den Eindruck, Sie sind auf einem sehr guten Weg in die Zukunft.

Dr. Ulrich Nachbaur, Vorarlberger Landesarchiv Bregenz

Dieser Artikel ist in Heft 98 der „Walserheimat“ zu finden.

Eine PDF-Version der Rede steht hier zum Download zur Verfügung.